Puh, das war knapp! Wie oft sind wir schon gestolpert und haben uns gerade noch einmal abgefangen, waren kurz abgelenkt und sind in letzter Sekunde noch einem Hindernis ausgewichen. Oft gehen brenzlige Situationen gerade noch mal gut aus. Dann atmen wir einmal tief durch und machen spätestens am nächsten Tag weiter wie gewohnt. Dabei könnten wir aus solchen Beinaheunfällen lernen.

Die Unfallpyramide

Frank Bird hat 1996 rund 1,7 Millionen Unfälle analysiert und dabei festgestellt, dass auf einen tödlichen Unfall zehn schwere Unfälle kommen, 30 „normale“ und rund 600 Beinaheunfälle. Aber was versteht der Arbeitssicherheitsexperte eigentlich unter „Unfall“? Ein Unfall ist ein plötzliches, von außen eintretendes Ereignis, bei dem jemand zu Schaden kommt. Für einen Arbeitsunfall muss das Ereignis laut Berufsgenossenschaft außerdem einer versicherten Person bei einer versicherten Tätigkeit zustoßen. Dadurch scheidet zum Beispiel ein Herzinfarkt aus, weil er nicht von außen eintritt. Auch wer in der Kantine auf einem Salatblatt ausrutscht, hat keinen Arbeitsunfall, weil das Mittagessen in der Kantine nicht zu den versicherten Tätigkeiten gehört. Beinaheunfälle definiert der Arbeitsschützer als Unfälle, bei denen niemand zu Schaden kam, aber auch unsichere Zustände oder Verhaltensweisen, also zum Beispiel ein offener Kanaldeckel, in den niemand gefallen ist. Doch warum sollte man Beinaheunfällen nachgehen, wo doch gar nichts passiert ist?

Die Idee dahinter ist: Wenn wir Beinaheunfälle verhindern, dann verhindern wir auch normale, schwere oder tödliche Unfälle. Denn egal wie schwer die Folgen sind, Auslöser für einen Beinaheunfall oder Schlimmeres ist eine gefährliche Situation – und wer sie verhindert, verhindert auch die Folgen.

Wer über Beinaheunfälle spricht, ermöglicht es außerdem anderen, aus den Fehlern ihrer Kollegen zu lernen.

Einfache Meldung an zentrale Stelle

Beinaheunfälle sollten Sie an eine zentrale Stelle melden können, am besten an die Kollegen, die sich auch sonst mit Arbeitsschutz und Unfällen befassen, Tauchen bestimmte unsichere Zustände oder Verhaltensweisen nämlich öfter auf, handelt es sich sehr wahrscheinlich um ein grundsätzliches Problem. An einer zentralen Stelle können die Kollegen die Ursachen besser erforschen und nach wirksamen Gegenmaßnahmen suchen.

Petzen gilt nicht

Wer an die Meldung von Beinaheunfällen denkt, hat unweigerlich das Wort „Petze“ im Hinterkopf. Dabei geht es hier nicht darum, zu melden, dass der Kollege Schmidt mal wieder seine Schutzbrille nicht aufhatte. Das können Sie auch persönlich mit ihm besprechen. Allerdings ist die Information, dass Mitarbeiter in einem bestimmten Bereich vielleicht sogar häufiger auf die Schutzbrille verzichten, für Arbeitsschützer sehr wohl von Interesse. Denn vielleicht liegt das Problem einfach daran, dass die Brillen nicht in greifbarer Nähe liegen. Dann ließe sich mit einer Brillenbox einfach Abhilfe schaffen. Die Art und Weise, wie Unternehmen mit solchen Meldungen umgehen, hat großen Einfluss auf die Akzeptanz des Konzepts. In einer offenen Fehlerkultur sollte es daher normal sein, über unsichere Situationen zu sprechen, um gemeinschaftlich besser werden. Und das muss jeder einzelne in einem Unternehmen leben, der Mitarbeiter an der Werkbank genauso wie der Geschäftsführer. Und das bedeutet selbstverständlich auch, dass Beinaheunfälle keinerlei Sanktionen nach sich ziehen dürfen. Wir achten beispielsweise darauf, dass unsere Kollegen keine Namen nennen und die Situation allgemein und respektvoll beschreiben. Damit der Aufwand für eine Meldung so gering wie möglich ist, haben wir ein Online-Formular entwickelt, in dem jeder Mitarbeiter solche Meldungen in zwei Minuten erledigen kann. Da diese Lösung nicht für alle praktikabel ist, können unsere Kollegen auch direkt bei uns anrufen oder es ihrem Vorgesetzten berichten, der die Meldung an uns übermittelt. Andere Unternehmen arbeiten mit ausliegenden Zetteln, die Mitarbeiter ausfüllen und weiterleiten können.

Natürlich werden solche Ideen nicht von allen Mitarbeitern gleich stark angenommen, doch es lohnt sich, daran zu arbeiten. Ideal ist es, wenn Kollegen Zustände erkennen, die die Entstehung eines Unfalls begünstigen, wenn beispielsweise der Spalt an einer Maschine verkleinert oder ein Öffnungsmechanismus verbessert werden sollte. Denn dann können wir nämlich schon ansetzen, bevor jemand sagen muss: Puh, gerade noch mal gutgegangen!