Ein Handtuch fällt vom Ständer. Eine Tür, die geschlossen sein sollte, ist es nicht, Papierchen liegen neben dem Mülleimer auf der Straße. In all diesen Fällen stellt sich die Frage: Lieber in Ordnung bringen oder einfach so tun als hätte man es nicht bemerkt? Mit der Sicherheitskultur in Unternehmen ist es ähnlich. Sie zeigt sich genau dann, wenn gerade niemand hinschaut. Jeder von uns hat, zumindest als Jugendlicher, schon die eine oder andere unsichere oder sogar grenzwertig legale Handlung begangen, wenn wir glaubten, dass es keiner sieht. Oft, weil es schneller oder bequemer war, manchmal aber auch mit einem gewissen Prickeln des Unerlaubten, das eine solche Handlung hervorruft. Blöd allerdings, wenn wir genau in diesem Moment erwischt wurden. Die Ausreden, die uns dann einfielen, waren in der Regel ziemlich dünn – und daran hat sich auch heute in der Arbeitswelt noch nicht viel geändert.
In der Arbeitssicherheit hören wir immer wieder kuriose Ausreden, wenn es darum geht, das eigene Fehlverhalten zu rechtfertigen. Ein absoluter Klassiker ist zum Beispiel: „Die Schutzbrille schädigt die Augen! Ich merke schon, dass meine Augen immer schlechter werden.“ Das ist zwar eine verbreitete Meinung, aber de facto Unsinn. Vielleicht ist die Schutzbrille verkratzt oder trägt sich schlecht, auf das Sehvermögen selbst hat sie jedoch keinen negativen Effekt – ganz im Gegensatz zu Verunreinigungen oder gefährlichen Stoffen, wenn sie in unser ungeschütztes Auge gelangen.
Ebenfalls beliebt sind Geschichten, in denen eine Person Schlimmeres verhinderte, indem sie eine Vorgabe nicht einhielt. Mal konnte sich jemand nur dadurch von einer umfallenden Hubarbeitsbühne retten, weil er sich nicht angegurtet hatte, mal war die Flucht aus dem brennenden Auto nur möglich, weil der Fahrer nicht angeschnallt war. Solche Fälle mag es ja tatsächlich gegeben haben, sie stehen allerdings in keinem Verhältnis zu den unzähligen Situationen, in denen das Angurten Leben gerettet hat – ob im Auto oder auf Hubarbeitsbühnen.
Wir alle wissen, dass solche Aussagen im Grunde nur dazu dienen, die eigene Bequemlichkeit zu rechtfertigen, vor anderen, aber auch vor sich selbst. Denn dadurch ist unsere Handlungsweise aufgrund reiflicher Überlegung und nicht aus Nachlässigkeit entstanden. Doch im Normalfall haben sich eine Menge Leute im Vorfeld viele Gedanken gemacht, bevor sie sie in Sicherheitsrichtlinien festhalten. Ein bisschen mehr Vertrauen in die Arbeit der Experten kann daher sicher nicht schaden.
Die gleichen Menschen, die bestehende Sicherheitshinweise kreativ umdeuten, sind allerdings sehr restriktiv, wenn es darum geht, eine unsichere Situation einfach nur mit gesundem Menschenverstand zu betrachten. Dabei versteht es sich von selbst, unter Brandschutztüren keine Keile zu klemmen, um sie offen zu halten oder keine sperrigen Gegenstände mitten in Verkehrsflächen zu lagern, weil man sie ja gleich wieder benötigt. Immer wieder bekommen wir dann die Frage zu hören: „Wo steht das?“ Und solange keine Richtlinie es vorschreibt, verweigern die Kollegen die Umsetzung. Die Konsequenz wären noch mehr Regelungen und Gefährdungsbeurteilungen – doch wer will das schon. Sinnvollen Maßnahmen sollten wir deshalb erst gar nicht diskutieren müssen. Im Gegenzug sollte übrigens jeder, der unsichere Handlungen oder Zustände entdeckt, sie konsequent ansprechen. Denn eine offene Fehlerkultur ist ein elementarer Bestandteil, wenn sich eine Organisation zu sicherem Verhalten entwickeln will. Damit am Ende möglichst alle auch dann sicher arbeiten, wenn eben gerade keiner hinsieht.