Strom ist gefährlich. Schon kleine Kinder wissen, dass sie ihre Hände von Steckdosen fernhalten müssen. Im industriellen Umfeld erreicht die Gefährdungslage durch Strom noch einmal ein ganz anderes Niveau als im heimischen Wohnzimmer. Ein Kurzschluss mit Störlichtbogen kann ein ganzes Werk lahmlegen und – noch schlimmer – Menschen tödlich verletzen. Im Gegensatz zu Unfällen in vielen anderen Lebensbereichen fehlen bei Unfällen in Zusammenhang mit Elektrizität häufig die leichten bis mittelschweren Unfälle. Gerade im oberen Spannungsbereich, also bei mehr als 1.000 Volt, enden Unfälle oftmals tödlich.

Deshalb sollten Sie gerade im Elektrobereich auch Beinaheunfällen nachgehen. Damit gemeint sind Unfälle, bei denen niemand zu Schaden kam, aber auch unsichere Zustände, fehlerbehaftete Arbeitsprozesse und Verhaltensweisen. Auslöser für einen Beinaheunfall ist immer eine gefährliche Situation – und wer sie verhindert, verhindert auch normale, schwere oder tödliche Folgen. Wer offen über Beinaheunfälle spricht, ermöglicht es außerdem anderen, aus den gewonnenen Erkenntnissen und Fehlern zu lernen.

„Ach ich schließ das mal schnell an.“

Stromschläge wegen gefährlicher Berührungsspannung gehören zu den Klassikern bei Unfällen im Elektrobereich. Gerade bei Arbeiten an Sicherungsabgängen in Verteilungsanlagen kommt es immer wieder zu Verletzungen. Werden zwar die Sicherungsabgänge abgeschaltet, an denen jemand arbeitet, nicht jedoch die Abgänge für nebenstehende Anlagenteile, führt eine versehentliche Berührung benachbarter, unter Spannung stehender Teile zum Stromschlag oder gar bei Kurzschluss zum Störlichtbogen. Benachbarte, unter Spannung stehenden Teile sind deshalb bei gewissen Anlagen mit speziellen Isoliermatten abzudecken. Das ist eigentlich eine Sache von wenigen Minuten – und wird trotzdem oft „vergessen“. Darauf zu verzichten, ist allerdings keine gute Idee.

Sekundärunfälle – wenn der Stromschlag nur der Auslöser ist

Nicht immer ist der eigentliche Stromschlag das Gefährliche, sondern die Folgen, die daraus entstehen. Die Folgen können genauso bedrohlich oder noch gefährlicher sein. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, ein Mitarbeiter erhält einen Stromschlag, während er auf einer Leiter an einer Lampe arbeitet. Fällt er vor Schreck von der Leiter und bricht sich ein Bein, handelt es sich um einen Sekundärunfall.

Unternehmen lernen voneinander

Zum Glück sind (Beinahe-)Unfälle im Elektrobereich in den meisten Unternehmen selten. Noch besser ist es jedoch, von den Erfahrungen anderen Unternehmen zu profitieren und damit Gefahren auszuschließen, an die man selbst vielleicht gar nicht gedacht hätte. Diesen Ansatz nutzen beispielsweise die Mitglieder der Interessengemeinschaft Regelwerke e. V. (IGR). In diesem Verein haben sich Elektrofachkräfte aus rund 15 Unternehmen zusammengeschlossen, um Fragen aus der Praxis zu diskutieren und voneinander zu lernen. Zu den Mitgliedern zählen bekannte Chemie-, Pharma- und Industriekonzerne, aber auch andere Hersteller, Betreiber und Dienstleister wie YNCORIS. Die Organisation hat in der Branche einen exzellenten Ruf und unterstützt bei der Entwicklung von Warn- und Produkthinweisen sowie bei Industriestandards und der Regelwerksverfolgung.

Seit Kurzem teilen die Unternehmen in der IGR ihre Beinaheunfälle aus dem Elektrobereich anonym. Dazu bereitet die IGR die Informationen, die der Verein von den Unternehmen erhält, so allgemein auf, dass sich keine Rückschlüsse auf eines der Mitglieder oder deren Mitarbeiter*innen ziehen lassen, alle aber gleichzeitig voneinander lernen können. Schließlich haben alle mit ähnlichen Anlagenteilen zu tun. Der Zugriff auf diese Informationen ist nur für registrierte Mitglieder möglich. Bei der IGR kann aber grundsätzlich jedes Unternehmen Mitglied werden.

Verbessern mit Vertrauen

Eine solche Idee steht und fällt natürlich mit den der Verbesserungskultur im Unternehmen. Denn nur wenn Mitarbeiter*innen ehrlich über alle kritische Situation und unsichere Arbeitsweisen informieren, stehen diese Erfahrungen auch anderen zur Verfügung. Dabei geht es nicht darum, das Fehlverhalten eines Kollegen zu melden, sondern um gemeinschaftlich besser zu werden. Beinaheunfälle sollten Ihre Mitarbeiter*innen daher an eine zentrale Stelle melden können, am besten an die Kolleg*innen, die sich auch sonst mit Arbeitsschutz und Unfällen befassen. Tauchen bestimmte unsichere Zustände oder Verhaltensweisen nämlich öfter auf, handelt es sich sehr wahrscheinlich um ein grundsätzliches Problem. An einer zentralen Stelle können die Kolleg*innen die Ursachen gründlicher erforschen und nach wirksamen Gegenmaßnahmen suchen. Für Mitarbeiter*innen muss außerdem klar sein: Wer solche Zustände und Verhaltensweisen meldet, setzt damit nicht seine Karriere aufs Spiel, sondern liefert wichtige Hinweise, um sich und andere noch besser zu schützen. Und das bedeutet selbstverständlich auch, dass Beinaheunfälle keinerlei Sanktionen nach sich ziehen. Achten Sie deshalb darauf, dass die Kolleg*innen die Situation allgemein und respektvoll beschreiben, ohne Namen zu nennen. Halten Sie außerdem den Aufwand für eine Meldung so klein wie möglich, das erhöht die Chance, dass sich viele daran beteiligen. Im Idealfall können Sie so dafür sorgen, dass nicht nur die Zahl der Unfälle, sondern auch die Anzahl gefährlicher Situationen in Ihrem Unternehmen immer weniger wird.